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Menschenrechte und kollektiver Rechtsschutz

Zugang zu Recht und Gerichten bei Menschenrechtsverletzungen – Die Perspektive des kollektiven Rechtsschutzes

Vorbereitung der Expertenanhörung NAP UNPG am 28.9.2015

In welchen Rechtsgebieten diskutieren wir (derzeit) kollektiven Rechtsschutz?

Auf nationaler wie auf EU-Ebene wird über kollektiven Rechtsschutz vor allem im Bereich des Verbraucherrechts (insbes. Verbrauchervertragsrecht, Allgemeine Geschäftsbedingungen, Kapitalanlagerecht) und des Wettbewerbsrechts (Kartellrecht und Lauterkeitsrecht) diskutiert. Neuerdings ist auch das Arbeitsrecht Diskussionsgegenstand für eine Eröffnung des kollektiven Rechtsschutzes. Diesen Rechtsgebieten ist jeweils gemein, dass sie eine überindividuelle Zielsetzung zeigen, die sich nicht in der Kumulation von Einzelrechten erschöpft, sondern ein Sachinteresse der Allgemeinheit erkennen lässt. Außerdem regeln sie großteils Rechtsverhältnisse in sog. Ungleichgewichtslagen, wofür etwa das Verhältnis Verbraucher/Unternehmer oder auch dasjenige von Arbeitnehmer/Arbeitgeber und (Klein- )Anleger/Emittent einer Kapitalanlage, Kartellant/Kartellgeschädigter exemplarisch benannt werden kann. Ungleichgewichte können sich dabei aus sozialer Abhängigkeit, wirtschaftlicher Unterlegenheit, Informationsdefiziten und/oder unterschiedlicher Geschäftserfahrung ergeben. Schließlich handelt es sich um Rechtsgebiete, die auf europäischer Ebene einen intensiven Rechtsangleichungsprozess hinter sich haben, der sich auch aktuell noch fortsetzt. Vor allem der europäische Verbraucher ist dabei als Promotor des europäischen Binnenmarktes anzusehen und wird entsprechend auch rechtspolitisch eingesetzt. Das ist sowohl an den vereinheitlichten Regeln des materiellen Rechts als auch im Europäischen Zivilprozessrecht und im Internationalen Privatrecht des Verbraucherrechts erkennbar. Schließlich handelt es sich um Rechtsgebiete, bei denen Defizite im Individualrechtsschutz und damit Hindernisse im Zugang zum Recht anerkannt sind.

Bei welchen Fallkonstellationen diskutieren wir (derzeit) kollektiven Rechtsschutz?

  • Massenschadensereignisse/Großschäden

Gemeint sind Massenschäden im Kapitalanlagerecht, aber auch große Schadenssummen nach einem Unfallereignis (Flugzeug-, Bahn-, Schiffsunglück, Unfälle in Industrieanlagen und Produktionsstätten) oder in der Produkt- und Arzneimittelhaftung. Hier stellen sich häufig dieselben tatsächlichen und rechtlichen Fragen mehrfach, und die einmalige verbindliche Entscheidung durchgehend erheblicher Rechts- und Tatsachenfragen kann Entlastung und Beschleunigung bringen. Vielfach sind teure und aufwändige Beweisermittlungen und -erhebungen notwendig, die die Möglichkeiten sowohl der individuell Betroffenen als auch der Gerichte in der Bewältigung der Prozesse übersteigen. Opportune Möglichkeiten sind deshalb (einfach zu handhabende) Musterklagen und Gruppenklagen mit einem Repräsentationsmodell. Bewährt haben sich dabei auch Möglichkeiten des Massenvergleichs und der außergerichtlichen Streitbeilegung.

  • Streuschadensereignisse

Bei massenhaft vorkommenden Kleinstforderungen besteht aus verschiedenen Gründen eine „rationale Apathie“ in der Rechtsdurchsetzung. Die prozessuale Durchsetzung lohnt sich nicht, weil sie mehr Mühe und Kosten verursacht als sie – selbst im Erfolgsfalle – einbringt. Die Rede ist etwa von massenhaft zu gering befüllten Produktverpackungen, massenweise unberechtigter Einziehung von Kleinstforderungen wie etwa Bankgebühren, regelmäßige unlautere Werbung, Kartellabsprachen mit nachfolgenden Preiserhöhungen für den Abnehmer und ähnlichen Konstellationen. Dass hier der Grundsatz „wo kein Kläger, da kein Richter“ bzw. „whose dispute is it anyway?“ nicht gelten kann und soll, leuchtet ein: Ein unsanktionierter kalkulierter Rechtsbruch, der unberechtigte Gewinne generiert, kann nicht hingenommen werden. Abhilfe kann geschaffen werden durch die Einräumung lohnender Sanktionen, die zugleich präventive Wirkung entfalten, etwa der Gewinnabschöpfung und der (ordnungsgeld-/strafbewehrten) Unterlassungsklage durch Verbände.

  • Objektive Rechtsverletzungen ohne individuellen Rechtsträger

Durchsetzungsdefizite bestehen dort, wo kein individuelles Recht existiert, mit Hilfe dessen eine Rechtsverletzung sanktioniert werden kann. Massenhaft verwendete rechtswidrige Allgemeine Geschäftsbedingungen oder verbraucherschutzgesetzwidrige Praktiken und auch Wettbewerbsverletzungen müssen bzw. können nicht immer mit einem individuellen Anspruch (auf Unterlassung, Schadenersatz oder Erfüllung) einhergehen. Auch hier wird aber ein rechtspolitisches Interesse an der Wahrung des objektiven Rechts angenommen. Die Verlagerung der Rechtsdurchsetzung auf Verbände ist hier eine Möglichkeit.

Auf welche Probleme beim Zugang zum Recht reagiert der kollektive Rechtsschutz?

Auf der Grundlage der oben beschriebenen Rechtsgebiete und Fallkonstellationen (Nr. 1, 2) kann man festhalten, dass der kollektive Rechtsschutz, ob durch Verbandsklagen, durch Musterklagen und/oder durch Gruppenklagen, vor allem auf Defizite in der individuellen Rechtsdurchsetzung, im Zugang des Einzelnen zu Recht und Gerichten reagiert. Der Einzelne kann oder will keinen Prozess führen, sei es weil es zu mühsam, sei es weil es zu teuer, sei es, weil es aussichtslos ist, oder sei es, weil der Einzelne gar keinen individuellen Anspruch hat. Dass dadurch Rechtsverletzungen unsanktioniert und Schäden unkompensiert bleiben, dass Gewinne auf der Grundlage von Rechtsbruch gesteigert werden können, kann und soll nicht hingenommen werden. Die Kollektivierung der Rechtsdurchsetzung ist Mittel der Wahl und soll Abhilfe schaffen.

Welchen Schwierigkeiten ist der kollektive Rechtsschutz ausgesetzt, welche (derzeitigen) Defizite weist er auf?

Weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene sind bislang die beschriebenen Defizite im Zugang zu Recht und Gerichten vollständig behoben, oder die erwähnten Fallkonstellationen gänzlich überzeugenden Lösungen zugeführt.

  • Unterlassungsklagen geben keinen unmittelbaren Anspruch auf Ersatz erlittener Schäden. Sie können nur für die Zukunft vorsorgen. Eine Verknüpfung von kollektivem Rechtsschutz und Individualrechtsschutz gibt es kaum. Eine Unterlassungsklage hat nicht einmal verjährungshemmende Wirkung für individuelle Ansprüche. Erste Ansätze in dieser Richtung gibt es im Kartellrecht, wo das behördliche Verfahren verjährungshemmende Wirkung hat, und im reformierten Gesetz über Musterklagen bei Kapitalanlagen, wo eine einfache Anmeldung des Anspruchs zu einem Musterverfahren zumindest verjährungshemmende Wirkung hat. Auch der Entwurf eines Gesetzes über die Einführung von Gruppenverfahren (BTDrs. 18/1464) sieht – neben der begrüßenswerten Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereich auf grundsätzlich alle Rechtsgebiete - Vergleichbares vor.
  • Gewinnabschöpfungsklagen von Verbänden begegnen in der Regel dem Problem, dass die Kosten der Klagen hoch sind, der Gewinn schwer zu beziffern ist und in der Regel nur vorsätzliche Rechtsverletzungen eine Gewinnabschöpfung rechtfertigen. Zudem ist es im Wettbewerbsrecht schwierig, dem Argument zu begegnen, der Schaden sei doch bereits durch Weiterveräußerung der kartellbefangenen Ware auf die nächste Vertriebsstufe abgewälzt worden (passing on defence/Vorteilsausgleichung).
  • Auch kollektive Schadenersatzklagen haben mit Beweisschwierigkeiten und Schwierigkeiten bei der Schadensberechnung zu kämpfen. Beweiserleichterungen gibt es nur wenige. Schadenersatzklagen von Verbänden, die eine Vielzahl von Individualansprüchen sammeln, begegnen außerdem großen organisatorischen und logistischen Schwierigkeiten und der Tatsache, dass eine verbindliche Gesamtentscheidung in der Regel an individuellen Unterschieden der Einzelverletzungen scheitert. In der Tat ist eine Verbindung von Klagen zu Streitgenossenschaften einem effektiven Gruppenverfahren nicht gleichzustellen. Musterklagen sind sehr aufwändig und langwierig; auch Gruppenklagen haben sich als wenig effektiv erwiesen. Abhilfe versucht wiederum der bereits erwähnte Entwurf eines Gesetzes über die Einführung von Gruppenverfahren, indem eine Bündelung individueller Ansprüche mit grundsätzlich unbegrenztem sachlichen Anwendungsbereich vorgeschlagen wird.
  • Insgesamt kommt zu den allgemeinen Kostenrisiken bei Prozessverlust beim kollektiven Rechtsschutz zweierlei hinzu: Die Gewinne aus einem gewonnenen Verfahren verbleiben in der Regel nicht beim klagenden Verband; für die Verluste muss er aber voll aufkommen. Selbst beim Prozessgewinn gibt es im Verhältnis zum Staat eine Zweitschuldnerhaftung. Erfolgshonorare sind nur eingeschränkt möglich. Prozessfinanzierung ist nur ausnahmsweise gestattet, Prozesskostenhilfe ist nicht einfach zu begründen, da sie von den Erfolgsaussichten und der Bedürftigkeit des Klägers abhängt, und für Kläger aus dem Ausland kann es sogar zur Pflicht einer Prozesskostensicherheit kommen. PKH für einen Verbraucherverband gibt es wegen den insoweit strengeren Voraussetzungen in der Regel nicht. Die europäische Prozesskostenhilferichtlinie (2003/8/EG) sieht ohnehin nur natürliche Personen als mögliche Empfänger vor.
  • Der kollektive Rechtsschutz begegnet in verstärktem Maße den ohnehin nicht einfachen Hindernissen bei der grenzüberschreitenden Rechtsverfolgung. Zu erwähnen sind dabei zunächst Sprach- und Kostenprobleme sowie erhöhter Reiseaufwand für Parteien und Zeugen bei der grenzüberschreitenden Rechtsverfolgung. Außerdem sind die Gerichtsstände der Brüssel Ia-VO (VO 1215/2012) in der Regel am Individualprozess ausgerichtet (Deliktsgerichtsstand, Verbrauchergerichtsstand, Versicherung). Das autonome nationale internationale Zivilprozessrecht ist weltweit unterschiedlich geregelt. Schließlich sind die grenzüberschreitende Zustellung und die grenzüberschreitende Vollstreckung eine besondere Hürde für den internationalen kollektiven Rechtsschutz.

Welche Analogien zeigen sich im Hinblick auf Nr. 1-4 im Bereich des Menschenrechtschutzes?

Wenn man sich die typischen Fallkonstellationen anschaut und aus der Praxis abstrahiert, muss zunächst festgehalten werden, dass weder die strafrechtliche Verantwortung noch die konzernmäßige Verflechtung mit ihren zivilrechtlicher Zurechnung und Haftungsverteilung durch kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten ersetzt oder vollständig gelöst werden können. Fragen des materiellen Zivilrechts und des Straf- und Strafprozessrechts können nicht oder nur sehr begrenzt (Straftatbestände des Wettbewerbsrechts) durch kollektiven Rechtsschutz erledigt werden. Das betrifft etwa auch die Strafbarkeit von Unternehmen (statt nur von Menschen). Fragen der Durchsetzung des materiellen Rechts und den Strafprozess ergänzende zivilrechtliche Verfahren sind aber sehr wohl Gegenstand auch kollektiver Rechtsschutzmöglichkeiten.

Vergleicht man die typischen Rechtsgebiete, für die bislang kollektiver Rechtsschutz diskutiert wird, mit den Erfordernissen des Menschenrechtschutzes fallen deutliche Paralleleln auf:

  • Menschenrechtsverletzungen gehen in aller Regel mit Ungleichgewichtslagen einher. Das gilt für ausländische Arbeitnehmer nationaler Konzerne, für Umweltund Gesundheitsschäden und für die durch Landnahme Geschädigten.
  • Die Sachverhalte haben in aller Regel einen grenzüberschreitenden Bezugsrahmen, indem etwa international tätige Konzerne an ihrem Sitz oder am Ort des Schadenseintritts verklagt werden.
  • An der Einhaltung von Menschenrechtsstandards gibt es ein Allgemeininteresse, bei dem es der staatlichen Gemeinschaft, der Allgemeinheit und der Staatengemeinschaft nicht gleichgültig sein kann, ob eine Rechtsverletzung mit einer Sanktion einhergeht und künftigen Rechtsverletzungen effektiv vorgebeugt werden kann. Das überindividuelle Interesse an der Sanktionierung ist besonders groß. Eine Menschenrechtsverletzung ist in diesem Sinne niemals geringfügig. Dies spiegelt sich in den UN-Leitprinzipien und den nationalen Aktionsplänen.
  • Niedrige Menschenrechtsstandards können mit geringen Kosten einhergehen, so dass mit dem Rechtsbruch bei Menschenrechten kalkuliert werden kann.
  • Menschenrechtsverletzungen sind schwer zu beziffern und Schäden sind schwer zu berechnen. Der entsprechende Nachweis ist nicht einfach zu erbringen.
  • Die Verletzung von Menschenrechten kommt in der Regel nicht im Einzelfall vor, sondern durch ein Schadensereignis werden die Rechte einer Vielzahl von Individuen verletzt. Bei der Rechtsdurchsetzung tauchen deshalb dieselben Rechtsund Tatsachenfragen auf, deren musterhafte Erledigung in einem Gruppenverfahren sinnvoll und effektiv erscheint. Dabei sollten die Verfahren nicht getrennt voneinander rechtlich und tatsächlich gewürdigt werden. Vielmehr geht es um die einheitliche und verbindliche Entscheidung einer Vielzahl, damit kollektivierter Verfahren.
  • Menschenrechtsverletzungen kommen häufig bei ungeklärten Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten vor. Die Verteidigung mit abgewälzten Verantwortlichkeiten sollte verhindert werden.
  • Mit Menschenrechtsverletzungen lässt sich aus anwaltlicher Perspektive häufig kein großer Gewinn machen, da die Sachverhalte und Rechtsfragen schwierig, die eingeklagten Summen aber – jedenfalls im Hinblick auf den individuellen Fall – gering sein können. Prozessfinanzierungen und Erfolgshonorare sind in der Regel nicht möglich.

Fazit

Insgesamt bedeutet dies, dass die Defizite des Individualprozesses, die bislang schon als Anlass für kollektiven Rechtsschutz angesehen wurden, auch im Bereich der Einhaltung von Menschenrechtsstandards auftauchen. Hier wie dort bringen sie Einbußen im Zugang zu Recht und Gerichten. An den diagnostizierten Defiziten des kollektiven Rechtsschutzes selbst sollte freilich auch im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz rechtspolitisch gearbeitet werden. Die Empfehlungen der Europäischen Union – soweit zur Entwicklung auf EU-Ebene – vom Juni 2013 setzen insoweit keine allzu hohen Standards. Rechtsschutz durch Gruppenverfahren, Musterverfahren und Verbandsklagen scheint ein geeignetes Mittel der Abhilfe. Es bietet sich an, kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten unabhängig von einem – etwa auf Verbraucher- oder Anlegerschutz – beschränkten Anwendungsbereich einzuführen. Bei Gruppenverfahren scheint eine Repräsentationslösung für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards eine sinnvolle Möglichkeit. Für den Zugang zu einem Gruppenverfahren könnte man über ein Quorum nachdenken und/oder die Prozessinitiative in die Hände von Verbänden legen. Auch die Möglichkeiten zur vergleichsweisen Beilegung von Massenschäden sollten erweitert werden.

Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Halle 16.9.2015

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